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Digitale Gewalt gegen Frauen | Im Gespräch mit ANNA NACKT

Bei manchen Themen würden wir uns wünschen, keine Blogeinträge mehr darüber verfassen zu müssen, weil es im 21. Jahrhundert nicht mehr notwendig sein sollte. Heute am 25. November ist ein Tag, der einem solchen Thema gewidmet ist – der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Leider zeigt beispielsweise die Auswertung des deutschen Bundeskriminalamt 2019, dass es noch immer notwendig ist, diesem Problem große Aufmerksamkeit zu schenken. 

Aus diesem Grund haben wir uns mit Emily und Anna vom Projekt ANNA NACKT unterhalten, die sich speziell mit dem Thema der digitalen Gewalt beschäftigen – ein Bereich, der mit stetig steigender Verbreitung digitaler und sozialer Medien immer präsenter geworden ist.


Liebe Emily und liebe Anna! Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, mit uns einen Blick auf das spezielle Thema digitale Gewalt gegen Frauen zu werfen.
Mit dem Projekt ANNA NACKT habt ihr und euer Team eine Plattform für Menschen geschaffen, deren private Inhalte (z.B. Aktbilder) gegen ihren Willen im Internet gelandet sind. Was ist die Idee und das Ziel hinter der Plattform?

Wie würdest du dich fühlen, wenn ein alter Schulfreund deine intimsten, privaten Bilder von online finden würde? Bilder, die du über eine sichere Messaging-Plattform an jemanden geschickt hast, den du liebst und dem du vertraust? Das ist ein Missbrauch, und das Letzte, was du hören willst, wenn du diesen der Polizei meldest ist: „Sind Sie sicher, dass Sie diese Bilder nicht selbst hochgeladen haben?“

Aus eigener Erfahrung und aus der Erfahrung anderer haben wir gelernt, dass diejenigen, die die Betroffenen unterstützen sollten (d.h. Polizei und Strafverfolgungsbehörden), oft nicht genau wissen, was sie tun sollen, und stattdessen den „Opfern“ die Schuld für das Geschehene geben. Dieser Mangel an Verständnis und – noch beunruhigender – an Einfühlungsvermögen für diejenigen, die digitalen Missbrauch erleben, ist der Grund, warum wir das Projekt ANNA NACKT gestartet haben.

Wir haben damit angefangen, den Menschen, die diese Form der digitalen Gewalt erleben, leicht zugängliche und praktische Hilfe sowie Unterstützung und Verständnis zu bieten. Mussten jedoch schnell feststellen, dass dies keine signifikanten Auswirkungen auf das viel größere Problem der digitalen Gewalt haben wird. Deshalb fordern wir derzeit die deutsche Regierung auf, ihre Gesetze zur Cyber-Gewalt zu ändern. Letztendlich mit dem Ziel, ein freies und offenes Internet zu schaffen, das für alle sicher ist.


Werfen wir einen genaueren Blick auf das Phänomen der digitalen Gewalt: Wie würdet ihr es definieren und wo/wie zeigt es sich üblicherweise?

Die bekanntesten Formen sind Hassreden, Cyber-Stalking und das Teilen von beleidigendem Material. Cyber-Gewalt (auch bekannt als Online- oder digitale Gewalt) bezieht sich auf Formen der Gewalt, die technische Hilfsmittel und digitale Medien (z.B. Telefone, E-Mails) benutzen und/oder im digitalen Raum (z.B. auf Social-Media-Plattformen) stattfinden. Es gibt jedoch keine allgemein verbreitete Definition dafür.

Einfach ausgedrückt: Es handelt sich um Gewalt im Zusammenhang mit der Nutzung von Hardware, Software und/oder der Online-Welt. Neuere Formen umfassen den Einsatz von künstlicher Intelligenz, z.B. Deep Fake Software, um Bilder und Videos zu erzeugen, die täuschend echt aussehen. Dies zeigt auch, warum es schwierig ist, eine gemeinsame Definition zu finden: Die Formen der Cyber-Gewalt ändern sich schnell.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass alle – Frauen, Männer und nicht-binäre Personen – von Cyber-Gewalt betroffen sind. Obwohl statistisch gesehen in den meisten Fällen die Täter Männer und die Betroffenen Frauen sind.

Frauen und Mädchen erleben oft auch schwerwiegendere Formen von Cyber-Gewalt wie sexistische Hassreden (z.B. Vergewaltigungsdrohungen), bildbasierten sexuellen Missbrauch und Cyber-Stalking. Aus diesem Grund führen Organisationen wie die UNO und die EU spezifische Untersuchungen zur Cyber-Gewalt gegen Frauen und Mädchen durch.

Das Wichtigste ist: Cyber-Gewalt ist echte Gewalt. Sie kann nicht von der realen Welt getrennt werden, zumal sie oft sehr stark mit der Offline-Welt verflochten ist. 

Eine Person mit einem Cyber-Stalker kennt den Stalker oft im „wirklichen Leben“, und die Bilder, die jemand illegal online geteilt hat, sind im wirklichen Leben aufgenommen worden.

Außerdem sind die Auswirkungen real: Die Menschen fühlen sich ängstlicher, wenn sie eine Straße entlang gehen, sie haben Panikattacken, und sie müssen echte Gespräche mit Menschen in ihrem Leben führen, um zu erklären, warum ihre Aktfotos online gefunden werden können.


Dennoch wird das Thema oft verharmlost und nicht ernst genommen. Wie sind eure Erfahrungen, wie groß ist das Thema, wie oft landen sensible Inhalte im Internet?

Es ist unmöglich, das Ausmaß des Problems zu kennen, da diese Verbrechen häufig nicht gemeldet werden. Organisationen, wie das bff – Bundesverband Gewalt gegen Frauen, fordern seit Jahren eine unabhängige Studie über Cyber-Gewalt in Deutschland (was wir absolut unterstützen).

Pornoseiten wie xHamster und PornHub enthalten über 100.000 Bilder von Frauen, die als ungefragt genutzte Fotos identifiziert werden können. Dies ist eine sehr grobe Schätzung und wahrscheinlich viel zu konservativ für die Realität.

Um noch etwas mehr Perspektive zu geben: Eine kürzlich entdeckte Deep Fake-Software hat mehr als 100.000 Deep Fake-Aktfotos (Aktfotos von Frauen, die nicht echt sind, aber täuschend echt aussehen) auf der Grundlage nur eines Profilbildes erstellt.

Die EU schätzt, dass mehr als 20 Millionen Frauen in Europa Cyber-Gewalt in irgendeiner Form erlebt haben. Außerdem zeigt eine globale Studie (von Plan International), dass die Hälfte der Weltbevölkerung von Frauen und Mädchen Cyber-Gewalt und/oder Belästigung erfahren hat.


Wie wirkt sich digitale Gewalt auf die Betroffenen aus? Und welchen Rat würdet ihr ihnen geben, um mit einer solchen Situation umzugehen?

Die Auswirkungen können tiefgreifend sein und die Betroffenen leiden oft unter psychischen Problemen (am häufigsten Angst und Depression) und/oder einer Schädigung ihrer Lebensgrundlagen, wie zum Beispiel dem Verlust des Arbeitsplatzes. In vielen Fällen verstummen die Menschen aus Angst, in irgendeiner Weise aufzufallen, und wir verlieren wichtige Stimmen in der Gesellschaft.

Unser vielleicht zu offensichtlicher, aber sehr wirksamer Rat lautet: Atmet tief durch und sprecht mit jemandem, dem ihr vertraut. Die Situation wird vorübergehen und ihr werdet einen Weg finden, damit umzugehen (vertraut uns, wir haben das selbst schon durchgemacht). Sobald ihr euch ruhig fühlt, ist es an der Zeit, alles zu tun, um wieder die Kontrolle zu übernehmen (denkt daran, um Hilfe zu bitten – das schlagen wir nicht nur vor, sondern empfehlen es). Ihr könnt die Websites kontaktieren, eine Anzeige erstatten und selbst Beweise sammeln.

Es kann hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass ihr nicht allein seid, wenn Panik und Angst auftreten. Amnesty International hat herausgefunden, dass mindestens 41% der Frauen, die Online-Missbrauch ausgesetzt waren, auch um ihre körperliche Sicherheit fürchten, und 24% um die Sicherheit ihrer Familie (Online-Mobs, die Frauen angehen, geben oft detaillierte und anschauliche Drohungen heraus, z.B. auch gegen die Kinder).

Je nach Situation könnt ihr euch an folgende Organisationen wenden:

Wenn Nacktbilder durchgesickert sind, hat ANNA NACKT eine vollständige Schritt-für-Schritt-Anleitung, was zu tun ist, damit diese entfernt werden (DE & EN):

Rat und Unterstützung für Betroffene von Hassreden findest du auf der Website von Hate Aid (nur DE):

Diejenigen, die im Cyberspace gestalkt wurden, finden Hilfe im Frieda Frauenzentrum (nur DE):


Was würdet ihr euch für die Zukunft wünschen? Was sollte getan werden, um dieses Problem anzugehen?

Wir wünschen uns ein Internet, das frei und sicher für alle ist.

Um dies zu erreichen, müssen wir die Bekämpfung der Cyber-Gewalt ernsthaft in Angriff nehmen. Wir müssen den Betroffenen wirklich zuhören, die Täter*innen strafrechtlich verfolgen, die Strafverfolgungsbehörden mit den erforderlichen Ressourcen ausstatten. Außerdem müssen wir Online-Plattformen, wie Social Media, Porno-Websites und Websites mit gewalttätigen Inhalten, für die von ihnen verbreiteten Inhalte zur Rechenschaft ziehen.

DANKE!

Emily und Anna von ANNA NACKT und dein Team von vostel.de


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